Jump Cut. Zur Chrono-Logik von Film und Psychoanalyse.

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Bereits die Technik des Films kombiniert Zeitdiktat und Überwindung von Zeit auf eigentümliche Weise: Damit auf der Leinwand kontinuierliche Bewegungen sichtbar werden, muss ein im Kino projizierter Film diskontinuierlich durch den Projektor bewegt werden. Zuständig dafür ist das Malteserkreuz, welches kontinuier­liche Bewegung in eine intermittierende übersetzt. Zudem darf der Transport des Filmstreifens von einem Einzelbild zum nächsten nicht auf der Leinwand sichtbar sein. So muss, damit die Illusion von Bewegung entstehen kann, die reale Bewegung des Bildstreifens im Projektor durch eine Blende verdeckt werden. Somit zeigt uns der Film nicht nur 24 Bilder pro Sekunde, sondern dazwischen auch 24-mal eine schwarze Leinwand. Tatsächlich sitzen wir, wenn wir ins Kino gehen und uns einen zweistündigen Film anschauen, eine volle Stunde im Dunkeln.

Was in dieser Dunkelheit unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle geschieht, ist bereits eine Dialektik aus Wiederkehr und Verheißung, ein ›Fort-Da-Spiel‹: Das eben gesehene Bild wirkt noch nach, und das nächste wird bereits antizipiert. So ist der Film schon in seiner technischen Verfasstheit ein Medium, welches Kontinuität und Diskontinuität verschränkt. Das eine bedingt gar das andere: Kontinuität kann erst als solche auf der Leinwand erscheinen, weil sie diskontinuierlich, von Blende und Malteserkreuz ›zerhackt‹, projiziert wird.[i] Film vollführt also zwangsläufig Jump Cuts, 24-mal pro Sekunde.[ii]

Zeitverläufe darzustellen, indem man sie skandiert, ist dem Film bereits unsichtbar auf seiner technisch-basalen Ebene eingeschrieben. So ist der Film, wie Friedrich Kittler herausgestrichen hat, »gerade weil er im Unterschied zu [anderen] Künsten in physikalischer Zeit arbeitet, […] imstande, diese Zeit zu manipulieren«.[iii] Und doch musste diese Fähigkeit zur »Zeitachsenmanipulation«, die der Film gleichsam unbewusst immer schon besaß, erst entdeckt werden. Diese (Wieder-)Entdeckung des technischen Unbewussten des Films ergab sich denn auch prompt durch eine ›Fehlleistung‹. Erlebt hat sie 1896 der Filmpionier Georges Méliès:

»Wollen Sie wissen, wie mir die Idee kam, in der Kinematographie Tricks zu verwenden? Wirklich, das war ganz einfach! Eine Panne des Apparats, dessen ich mich anfangs bediente (ein ganz einfacher Apparat, in dem der Film oft zerriss oder hängenblieb und nicht weiterlaufen wollte), hatte eine unerwartete Wirkung, als ich eines Tages ganz prosaisch die Place de l’Opéra photographierte. Es dauerte eine Minute, um den Film freizubekommen und die Kamera wieder in Gang zu setzen. Während dieser Minute hatten die Passanten, Omnibusse, Wagen sich natürlich weiterbewegt. Als ich mir den Film vorführte, sah ich an der Stelle, wo die Unterbrechung eingetreten war, plötzlich einen Omnibus der Linie Madeleine-Bastille sich in einen Leichenwagen verwandeln und Männer zu Frauen werden. Der Trick durch Ersetzen, Stopptrick genannt, war gefunden, und zwei Tage später begann ich damit, Männer in Frauen zu verwandeln und Menschen und Dinge plötzlich einfach verschwinden zu lassen …«.[iv]

Das »prosaische« Abfotografieren hat sich durch eine Panne der Kamera in poetische Metamorphose verwandelt, in Magie. Das sattsam bekannte Sujet der Place de l’Opéra wird zur Szene für ein neues Sehen, sie wird buchstäblich zu einem ›anderen Schauplatz‹.

Im Frühjahr 1896 entdeckt Méliès dank der Fehlleistung seines Apparats dessen Fähigkeit, mit dem Diktat der Zeit zu brechen. Fast gleichzeitig, im Herbst 1895, wird in Wien ein anderer Apparat entdeckt, welcher ganz ähnliche Mechanismen der Zeitmodifikation besitzt: der psychische Apparat.

In seinem Manuskript gebliebenen Entwurf einer Psychologie von 1895 beschreibt Freud den Fall seiner Patientin Emma [Eckstein], die unter einem Zwang leidet, der ihr nicht erlaubt, ein Geschäft zu betreten. Die Analyse fördert eine Szene zutage, die Emma im Alter von zwölf Jahren, kurz nach Eintreten der Pubertät, wie Freud betont, widerfahren ist: Die Zwölfjährige geht in ein Geschäft, sieht die beiden Angestellten miteinander lachen und stürzt darauf unter starker Angst wieder aus dem Geschäft hinaus. Diese Szene wird erst im Zusammenhang mit einer weiter zurückliegenden Szene verständlich, die im Verlauf der Analyse erinnert wird. In dieser zweiten, älteren Szene, geht die achtjährige Emma allein in einen Krämerladen, um Süßigkeiten zu kaufen. Dort greift ihr der Besitzer grinsend zwischen die Beine. Trotzdem geht sie wenig später noch ein zweites Mal hin. Anschliessend hat sie zwar ein schlechtes Gewissen, jedoch keine Angst. Diese setzt erst zum späteren Zeitpunkt, mit der geschilderten ersten Szene, ein. Freud erklärt diese Reaktion damit, dass das Lachen der beiden Angestellten in der jüngeren Situation in Emma unbewusst die Erinnerung an das Grinsen des Krämers aus der älteren Situation wachgerufen habe. Aber erst zu diesem späteren Zeitpunkt, nach Erlangen der Geschlechtsreife, kommt der mit der erinnerten Berührung ihrer Genitalien assozierte Affekt zum Tragen und wird in Angst verwandelt:

»Es liegt hier der Fall vor, dass eine Erinnerung einen Affekt erweckt, den sie als Erlebnis nicht erweckt hatte, weil unterdes die Veränderung der Pubertät ein anderes Verständnis des Erinnerten ermöglicht hat. Dieser Fall ist nun typisch für die Verdrängung bei der Hysterie. Überall findet sich, dass eine Erinnerung verdrängt wird, die nur nachträglich zum Trauma geworden ist.«[v]

Erst nachträglich – Freud selbst hebt in seinem Manuskript dieses Wort hervor – wird ein Erlebnis zum Trauma. Damit entdeckt Freud, dass im Unbewussten die traditionellen Konzepte von Kausalität ihre Gültigkeit verlieren und mehr noch, dass für die Psyche Chronologie nicht mehr gilt.[vi] Der psychische Apparat entpuppt sich demnach als veritable Science-Fiction-Maschine, die Elemente aus der Zukunft in die Vergangenheit transportieren kann und umgekehrt.[vii] Der psychische Apparat macht Jump Cuts: Vom Gegenwärtigen schneidet das Unbewusste direkt aufs längst Vergangene um und modifiziert letzteres dadurch.[viii]

Diese frühe Hypothese von der Nachträglichkeit differenziert denn auch Freuds spätere Bemerkungen, das Unbewusste sei »überhaupt zeitlos«.[ix] Doch zeitlos ist das Unbewusste – wie Jacques Derrida betont hat – »nur in Opposition zu einem geläufigen Zeitbegriff […], einem traditionellen Begriff, einem Begriff der Metaphysik […] oder der Zeit des Bewusstseins«.[x] Die Prozesse des Unbewussten haben sehr wohl einen zeitlichen Verlauf, doch halten sie sich in ihrer zirkulären Dynamik nicht an eine lineare Zeitachse. Anstelle der gängigen Chronologie gehorcht der psychische Apparat einer anderen, umwegigen Chrono-Logik.

In Freud und der Schauplatz der Schrift hat Jacques Derrida die verschiedenen Modelle des psychischen Apparats verglichen. Doch während für den Philosophen die optischen Instrumente in der Traumdeutung oder die Fotografie in Zur Dynamik der Übertragung sich als unzureichende Vergleiche erweisen, stellt erst die Schreib-Maschine des Wunderblocks (aus der Notiz über den Wunderblock) ein zufriedenstellendes Modell für die Prozesse des Unbewussten bereit.[xi] Zuvor hatte schon Jacques Lacan den psychischen Apparat mit einer Schreib-Maschine identifiziert, genauer: mit den Ur-Computern der Kybernetik.[xii]

Dabei übersehen indes Freud wie auch seine beiden Leser, dass schon die Kino-Apparatur, bestehend aus Kamera, Schnittpult und Projektor, erfüllt, was an widersprüchlichen Funktionen vom psychischen Apparat behauptet wird. Als Maschine, die Bilderschriften produziert, verdichtet die Kino-Apparatur gleichsam die verschiedenen Modelle Freuds zu einem einzigen. Sowohl optisches Instrument wie auch Schreibgerät, ist mit dem Film ein Apparate-Komplex erfunden worden, über den Freud zur selben Zeit erst glaubte, spekulieren zu können. Während sich Freud durch die hysterischen Symptome Emmas die retroaktive Anti-Chronologie des Unbewussten eröffnet, entdeckt Georges Méliès in den Mucken seines kinematographischen Apparats die Anti-Chronologie des Films. Film und Psychoanalyse erweisen sich so als Zeitgenos­sen im mehrfachen Sinn: nicht nur dass sie dasselbe Alter haben; sie ermöglichen beide einen neuen Blick auf die Zeit per se, eröffnen einen anderen Schauplatz der Zeit.

[i] Vgl. dazu auch: Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 187.

[ii] Für den digitalen Film und seine digitale Projektion gelten freilich andere Bedingungen. Zwar schreibt sich auch hier die Diskontinuität in die Simulation von Kontinuität ein, aber nicht im analogen Nacheinander, sondern in der digitalen Gleichzeitigkeit. Der Sprung des Jump Cut verortet sich hier nicht zwischen den Aufnahmen, sondern in den einzelnen Aufnahmen selbst, genauer: in der Stapelung von Bildschichten übereinander (ein Effekt übrigens, den auch der analoge Film schon unter dem Namen ›Überblendung‹ kannte.) Statt die Diskontinuität aus dem filmischen Medium auszutreiben, macht die digitale Revolution sie allgegenwärtig: Jedes Objekt kann zu jedem möglichen Zeitpunkt in ein anderes umgerechnet werden (›Morphing‹). Jedes Bild ist virtuell immer schon ein anderes. So ist auch einsichtig, warum etwa Jean-Luc Godard seine Histoire(s) du cinéma auf Video gedreht hat: Dass die Filmgeschichte als Projekt verstanden werden kann, (historische) Kontinuität und Diskontinuität zu verschweißen, wird im digitalen Medium gerade nicht verwischt, sondern hervorgehoben. Siehe dazu: Jacques Rancière: La Fable cinématographique. Paris 2001, S. 217–237, hier v. a. S. 221 und 235.

[iii] Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin 2002, S. 228f.

[iv] Georges Méliès: Die kinematographischen Bilder (1907), in: Helmut H. Diederichs (Hg.): Geschichte der Filmtheorie. Frankfurt/M. 2004, S. 38f.

[v] Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie. In: ders.: Gesammelte Werke. Nachtragsband (Texte aus den Jahren 1885–1938). Frankfurt/M. 1987, S. 447f.

[vi] Im Entwurf selbst fällt sogar ein rätselhafter Satz, der die Möglichkeit offen hält, dass die erinnerte Szene II, die sich nachträglich als Trauma entpuppt, in dieser Art gar nie stattgefunden hat. Freud schreibt: »Es ist auch durch nichts erwiesen«. Unklar ist, ob mit diesem ›Es‹ nur die (unbewusste) Erinnerung an die Szene II zum Zeitpunkt der Szene I in Zweifel gezogen ist oder Szene II selbst, vgl. ebd. Denselben merkwürdig irrealen Status einer Ursache finden wir auch in der Traumdeutung: Den tatsächlichen Traum gibt es gar nicht, sondern immer nur den späteren Traumbericht. Der Traum selbst bleibt eine Voraussetzung, deren Status nie geklärt werden kann, die nur als nachträgliche Konstruktion existiert. Siehe dazu: Thomas Khurana: Die Dispersion des Unbewußten. Gießen 2002, S. 75–81, hier v. a. S. 80.

[vii] Diese Probleme zeitlicher Zuordnung stellen sich übrigens schon beim Lesen von Freuds Text ein, bezeichnet dieser doch die ältere Szene als »Szene II«, die spätere hingegen als »Szene I«.

[viii] Zum Begriff der Nachträglichkeit halte man sich auch an den ausführlichen Eintrag in: J. Laplanche, J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1972, S. 313–317.

[ix] Wörtlich so in Zur Psychopathalogie des Alltagslebens. Vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Bd. IV. London 1941, S. 305.

[x] Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: ders.: Die Schrift und die Differenz. Übers. von Rodolphe Gasché. Frankfurt/M. 1972, S. 327.

[xi] Ebd., S. 330. Vgl. Sigmund Freud: Notizen über den Wunderblock, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. XIV, London 1948. S. 1–8.

[xii] Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar. Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Übers. von Hans-Joachim Metzger. Weinheim 1991, hier v. a. S. 39–54 und S. 373–390.

in: Kiening, Christian; Prica, Aleksandra; Wirz, Benno: Wiederkehr und Verheissung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit. Zürich: Chronos 2011, S. 253-268.

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